Worum geht es in der Kunst? “Sie muss anders sein als die reale Welt “, sagt mein Zahnarzt. “Mir ist das zu abgehoben“, sagt die nette Frau von Kiosk, “mir gefällt Design besser. Ist auch schön anzugucken, aber auch praktisch“ “ Ich find das toll was für abgefahrene Ideen diese Künstler haben, “ sagt Paul. “Eine gute Investition, wenn man sich richtig beraten lässt“, sagt Volker.
“Arbeiten wir gegen die Leere, gegen diese für uns so falsche Zeit“. sagt die Künstlerin.
Kunst ist eigentlich immer merkwürdig und eigenartig, wenn sie nicht Auftragskunst ist, denn dort liegen die Anliegen des Auftraggebers zu Grunde. In der zeitgenössischen Kunst ist die eigenständige Suche des Künstlers/in, der Grund ihres/seines Schaffens. Nicht jeder der sucht ist deshalb ein Künstler. Wissenschaftler suchen nach Erklärungen, Philosophen suchen nach Zusammenhängen und viele suchen ganz einfach nach der Lösung eines Problems. Der Künstler/die Künstlerin sucht danach nicht. Er/sie sucht nach dem Anderen, dass eine noch nicht verbrauchte Kraft ausstrahlt. Freischaffende Künstler/innen suchen aufzudecken und in tiefere Schichten des Verstehens vorzudringen. Sie stellen Querverbindungen her, der Zufall und der Wiederspruch sind ihre Werkzeuge, mit denen sie sehen und spüren und versuchen dies zu inszenieren.
Doch einen wichtigen Aspekt habe ich ausgelassen, die Frage nach dem Objekt, mit dem sie sich auseinandersetzen. Das Andere lässt sich schwer finden, die Straßen sind gepflastert mit dem Gängigen. An den Rändern der Gesellschaft, an denen es nicht um Wohlstand, sondern um das Überleben geht, ist es anders. Ebenso sieht man es in den Gedanken der Menschen. An den dünnen Spitzen intellektueller und musikalischer Leistungen spürt man es auch. Einige Künstler trauen sich sogar in tiefe Abgründe zu schauen, und andere trauen sich bis ans Ende der Welt zu gehen.
Es gibt dieses Ende der Welt, nicht als jüngstes Gericht, aber als Ort, wo die Natur der Dinge anders ist, als wir sie kennen. Im ersten Moment ist dies vielleicht ein Baum, an dem die Blätter in die andere Richtung wachsen, auf dem entferntesten Kontinent, auf dem immer genau die entgegensetzte Jahreszeit ist, in einer Wüste, in der Nacht.
In einer zweiten Überlegung mag es eine Situation sein, in der wir nach Gott und Gerechtigkeit rufen, die nicht eintritt. Schlimmer noch, in der es nicht einmal Zeugen gibt. Für diese Abgründe muss es Abbilder geben, damit wir sie akzeptieren können, denn die Realität ist unerträglich und schädlich. Aus diesem Grund wurde die kathartische, griechische Tragödie erfunden. Aus diesem Grund schaffen Künstler Bilder, die nicht schön sind und die keine andere Welt darstellen, weder Investition noch großartige Idee sind und deren übertragener Nutzen sich nicht gleich im praktischen erschöpft. Die Absicht dieser Bilder ist nicht, eine imposante, melancholische Situation zu erzeugen. Das kann man ganz einfach in dem man, mit viel Geld ein Museum unter Wasser setzt oder eine dystopische Geschichte in Hollywood verfilmt. Events kommen und gehen, Kunst bleibt. Die herausragende Qualität ist, dass man immer wieder hingeht, um das Bild noch einmal zu sehen, weil es kein Abbild, sondern Sinnbild ist.
Ein Sinnbild, sei es nun gemalt, gedruckt, geformt, fotografiert oder sonst wie errungen, muss seine Bedeutung als Metapher schlicht und ohne Worte darstellen können und dabei die gängige Beliebigkeit seiner Deutung scheuen.
In der Serie “Dark Nights“ werden wir gezwungen uns anzuschauen was wir noch nie gesehen haben. Eine sehr merkwürdige Schönheit inszeniert sich vor uns, das Auge sucht Vergleiche, kann aber letztlich nicht aus dem schwarzen Rahmen der Nacht entweichen. Die Bewegungen sind uns vertraut aber gleichzeitig auch fremd, wir kenne die Akteure so nicht. Das Gedicht “ Der Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe, von 1782 fällt mir als Vergleich ein, doch ob man das, was man hier zum ersten Mal sieht mit Worten benennen will, wie es Schriftsteller tun, oder ob man es einfach spürt, ist Jedem selbst überlassen.
Das Museum verzichtet in diesem Fall auf jegliche Form von Interview und Selbstdarstellung.
Die Bilder sprechen für sich.
Ich frage mich jedoch, wo der Unterschied zwischen Meinung und Interpretation liegt. Durch die Interpretation entsteht Sinnbildung. Erst mit der Deutung ergibt sich die Bedeutung. Die nette Frau von Kiosk, die eher cooles und praktisches Design liebt, sagt, dass die Bäume von einem ZimtpilzPhytophthora Pilz befallen sind. Sie hat darüber der Zeitung gelesen. Der Pilz greift das Wurzelsystem an, reist im Wasser und wird über kleine Mengen Erde, die an den Schuhen von Spaziergängern haften, oder über andere Bodenstörungen verbreitet. Er stellt eine erhebliche Bedrohung für das Ökosystem dar, da der Verlust der Grasbäume die Artenzusammensetzung und Strukturform der Vegetation verändert und reduziert. Einheimische Vögel und Tiere, wirbellose Tiere und die Mikroflora können durch diese Veränderungen in der Vegetation bedroht werden, da die Nahrung und der Schutz, auf die sie angewiesen sind, zerstört werden.
Paul findet es beeindruckend, weil er gar nicht mehr weiß, ob das Foto in situ im Bush oder in einer Studioumgebung aufgenommen wurde, denn durch die nächtliche Beleuchtung bestimmter Bereiche wird der Hintergrund unsichtbar, was zu einem Verlust von Kontext führt. Volker stellt die Bilder in den Dienst, gegen die Zerstörung von Ecosysteme anzugehen und spendet 25% des Erlöses des Bildes (aus dem 50% Anteil des Galeristen für die Vermittlung) an den World Wildlife Trust zum Schutz von einheimischen Australischen Pflanzen.
Wir erinnern uns, die Künstlerin sagt: sie will gegen die Leere in uns angehen.
Was ist hier mit Leere gemeint? Und warum strahlen die Bilder ganz bewusst diese gespenstige Schönheit aus, die uns anzieht, der wir aber instinktiv misstrauen?
Ist mit Leere, der fehelende praktische Nutzen von Kunst gemeint oder vielleicht doch eher die fehlende Sinnlichkeit, die tiefere Bedeutung zu erkunden, die in einem Kunstwerk steckt? Warum muss ich immer wieder an den Erlkönig von Johann Wolfgang von Goethe (1782) denken? Ein Gedicht, das einerseits jedem Schulabgänger in Deutschland bekannt ist, deren Interpretation aber längst nicht Jedem geläufig ist. Eine Ballade, die der literarischen Epoche von Sturm und Drang zuzuordnen ist, in der sich Goethe an einer dänischen Volkssage bedient, die sich um den »Ellerkonge«, zu deutsch »Elfenkönig«, dreht. In der Ballade, »Der Erlkönig«, beschreibt Goethe den nächtlichen Ritt eines Vaters mit seinem kranken Sohn. Während des Ritts durch den Wald beginnt der Sohn in den Armen seines Vaters zu fantasieren, indem er die Figur des Erlkönigs wahrnimmt. Dieser möchte den Sohn mit Versprechungen in sein Reich locken, woraufhin der Junge Angst bekommt. Der Vater möchte seinen Sohn dadurch beruhigen, dass er die Wahrnehmungen seines Sohnes als harmlose Naturphänomene erklärt. Im Verlauf der Ballade steigert sich der Zugriff des Erlkönigs auf den Jungen jedoch, bis dieser schlussendlich tot in den Armen seines Vaters liegt.
Erlkönig J.W. von Goethe
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind:
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.
„Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?“
„Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif?“
„Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“
„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“
„Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht?“
„Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind:
In dürren Blättern säuselt der Wind.“
„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Rein
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“
„Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort?“
„Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau.“
„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“
„Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
Erlkönig hat mir eins Leides getan!“
Dem Vater grausets, er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not:
In seinen Armen das Kind war tot.
https://www.youtube.com/watch?v=WhV2WwEQj7U
Rein formal betrachtet besteht die Ballade aus acht Strophen mit jeweils vier Versen. Diese weisen einen durchgehenden Paarreim mit dem Reimschema »aabb« auf, was den dialogartigen Charakter der Ballade unterstreicht. Sowohl der Vater als auch der Sohn wechseln sich nun in einem jeweils zweizeiligen Dialog ab. Der Sohn eröffnet die Strophe dabei jeweils mit der Frage danach, ob der Vater den Erlkönig nicht auch wahrnimmt. Der Vater hingegen erklärt die Wahrnehmungen seines Sohnes rational mit Naturphänomenen. Dies ist typisch für Goethe, der als einer der ersten Dichter naturmagische Balladen verfasste, die den Konflikt zwischen dem Volksglauben und dem aufgeklärten Menschen behandeln. Im Erlkönig übernimmt der Sohn die Rolle des für die Magie der Natur empfänglichen einfachen Menschen und der Vater die Position des rational denkenden Menschen der Aufklärung. Gleich von Beginn an setzt Goethe zudem das Stilmittel des Kontrastes ein. Das wird beispielsweise anhand der Zeilen drei und vier (»Er hat den Knaben wohl in dem Arm, er fasst ihn sicher, er hält ihn warm«) deutlich, welche die schützenden Eigenschaften des Vaters den Eigenschaften einer stürmischen Nacht gegenüberstellen. Durch diesen Kontrast lässt sich im übertragenen Sinne eine doppeldeutige Verbindung zum Erlkönig herstellen, der den Jungen durch seine Aussagen aus dem Schutz seines Vaters beziehungsweise der Familie locken möchte »Du liebes Kind, komm geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel ich mit dir«. Diese beiden Zeilen deuten auch bereits auf ein sexuelles Motiv des Erlkönigs hin, dass er gegenüber dem Jungen haben könnte. Auffallend ist auch die Intensitätssteigerung in den Avancen des Erlkönigs. So lockt dieser den Sohn beispielsweise mit seinen Töchtern, wobei Goethe diesen verlockenden Umstand durch die Repetitio »Und wiegen und tanzen und singen dich ein« bekräftigt. Auch Alliterationen wie »bunte Blumen« und »gülden Gewand« untermauern die Versprechungen des Erlkönigs, da dem jeweiligen Objekt direkt eine positive Eigenschaft zugeordnet wird. Die Aussage »Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt« scheint eindeutig.
Während der Sohn seinen Vater direkt auf das Handeln des Erlkönigs anspricht, tut der Vater dies als Fantasie ab. In der Ballade wird diese Tatsache dadurch widergespiegelt, dass es der Vater erst mit der Angst zu tun bekommt als der Sohn den Übergriff des Erlkönigs schildert »Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an! Erlkönig hat mir eins Leides getan!«). Die Intensität des Hilfesuchens wird abermals durch eine Repetitio (»mein Vater«) unterstrichen. Das Ächzen des Kindes, das oberflächlich dem Fieberwahn zugeschrieben werden kann, verstärkt auf der tieferen Bedeutungsebene den Eindruck eines sexuellen Übergriffs des Erlkönigs, den der Vater nicht erkennt oder erkennen will. Die Schilderung des Ritts im Präsens und der Tod des Kindes in der Vergangenheit lassen die Vermutung zu, dass der Junge nicht körperlich tot ist. Vielmehr deutet dieser Kunstgriff im übertragenen Sinne auf den seelischen Tod des Jungen hin, der durch den Übergriff des Erlkönigs seine Kindheit verloren hat.
Der Grund für den Vergleich von Goethes Erlkönig mit Claudia Terstappens “Dark Nights“ liegt für mich nicht nur in den Parallelen der Dramatik beider Werke, in dem Wettlauf mit der Zeit, der Verdrängung und dem Konflikt zwischen einem alten und einem neuen Naturverständnis, sondern auch in der Frage, wie weit der Übergriff der schleichenden Zerstörung der Natur in uns einen Bruch verursacht hat, und in wie weit wir uns des Übergriffs schuldig machen, unsere Kinder zu ermahnen, diese, durch die von uns verursachte Zerstörung, zu beheben.
Zu dem eröffnet das Zitat einen Weg in ein Verständnis, das außerhalb des Werkes liegt. Goethe fand seine Worte 1782, aber die Interpretation verändert sich. Die Interpretation von Kunst ist heute meist recht oberflächlich, weil sie in den Medien auf Dekoration, tagespolitische Themen, auf Geldwert und populistische Provokation oder Entertainment abgerutscht ist. Das beschreibt Claudia Terstappen in der zweiten Hälfte ihres Satzes . “Arbeiten wir gegen die Leere, gegen diese für uns so falsche Zeit“
Wenn das Verständnis, dass außerhalb des Werks liegt, nun durch schlechte Umstände, besonders oberflächlich ausfällt, dann ziehen sich die Künstler zurück. Der Volksmund wirft ihnen dann gern vor, dass Künstler sich leicht nicht verstanden fühlen, doch um eine so einfache Selbstbestätigung geht den meisten nicht. Die Künstler, die ich kenne, machen ihre Kunst nicht um geliebt oder reich zu werden. Kein Künstler will seine Werke an einem miesen Ort ausgestellt, wo es missbraucht wird. Also zieht man sich aus dem Verständnis, das außerhalb des Werks liegt, schnell wieder zurück. Doch welchen Stimmen überlassen wir da die Bühne? Haben wir Künstler, diese für uns so falsche Zeit, nicht mit zu verantworten, in dem wir den gesellschaftlichen Spuk von Kunstmärkte, Auktionen, Eröffnungsparties und all die Dinge die nichts mit dem Verständnis von Kunst zu tun haben, mit getragen haben? Könnte es nicht auch anders gehen?
Alf Löhr